Ist das Lesen von Gesichtern erlernbar?

“Mach nicht so ein Gesicht”: Wer hat das noch nie gehört? Ob es um Freude, Langeweile, Angst, Nervosität und mehr geht, ist es so gut wie unmöglich, Gefühle komplett zu verbergen. Menschliche Emotionen stehen nicht in den Sternen, sondern im Gesicht geschrieben.

Dass Eingeweihte Gefühlsregungen selbst an kleinen Muskelzuckungen erkennen können, ist seit der Antike eine Quelle der Faszination. Schon Jahrhunderte vor der christlichen Zeitrechnung galten der griechische Politiker Aristokrates und der Mediziner Hippokrates, von dem der hippokratische Eid abgeleitet ist, als Gesichtsleser, die anhand der menschlichen Physiognomie Emotionen, aber auch Krankheiten identifizieren konnten. Das gleiche Talent wird dem Renaissance-Arzt Paracelsus und in der Aufklärung dem deutschen Dichter Goethe nachgesagt.

Die Vorteile lagen dabei schon von Anfang an klar auf der Hand: Ein Politiker und Feldherr, der Lügen und Wahrheit, echten Enthusiasmus und vorgespielte Unterstützung im Antlitz seiner Gegenüber sehen konnte, oder ein Arzt, der sich nicht auf die Ausflüchte von Patienten verlassen musste, konnten ganz andere Ergebnisse erzielen als jemand, der sich nur auf Worte berufen konnte.

Dabei sind ein Großteil der Menschen zu einem gewissen Maße Gesichtsleser. Lügen werden laut wissenschaftlichen Untersuchungen in rund 55 Prozent aller Fälle erkannt, und wenn die Einschätzung nur als reines Bauchgefühl oder Menschenkenntnis abgetan wird. Agatha Christies fiktive Amateurdetektivin Miss Marple pflegte sich in solchen Fällen stets auf die Ähnlichkeit mit anderen Personen zu berufen und festzustellen, dass sich die menschlichen Typen im Grunde gleich waren.

Das Lesen von Gesichtern hat viele Vorteile. Beim Pokern nicht nur die möglichen Poker Kombinationen zu kennen, sondern fundiert einschätzen zu können, ob der Zocker gegenüber am Tisch blufft, zu wissen, ob der Chef wirklich daran denkt, einem die so gut wie versprochene Beförderung zu geben, oder ob der Partner tatsächlich vom vorgeschlagenen Zelturlaub begeistert ist, ist stets hilfreich.

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Doch nicht jedem ist das Interpretationstalent in die Wiege gelegt. Dass sich das Gesichterlesen zu einem gewissen Grad studieren und lernen lässt, ist dabei eine gute Nachricht für all diejenigen, die sich dieser Kunst widmen wollen. Mit ausreichend Übung lassen sich vor allem Lügen aufdecken. Von den genannten 55 Prozent der auch so entdeckten Schwindeleien steigt die Quote unter Anwendung von wissenschaftlichen Techniken auf 85 bis 90 Prozent. Experten konzentrieren sich dabei in erster Linie auf Augen und Mund. In den Bereichen finden sich nämlich Muskeln, die am schnellsten auf emotionale Veränderungen reagieren, weil sie direkt an Augen und Lippen angepasst sind. Darum entstehen zum Beispiel auch bei einem echten Lächeln winzige Fältchen um die Augen. Ist das Grinsen nur aufgesetzt, gibt es rund um die Augenpartie keine automatische Reaktion.

Kulturelle Unterschiede spielen dabei nur eine sehr geringe Rolle. Den Nachweis, dass die meisten Gefühle genetisch und nicht durch unser Umfeld geprägt sind, hat der als menschlicher Lügendetektor bekannt gewordene amerikanische Psychologe Paul Ekman erbracht. Der Wissenschaftler, der bereits als 15-Jähriger die Zulassungsprüfung für die Universität von Chicago bestanden hatte, wollte ursprünglich in die Fußstapfen von Sigmund Freud, dem Vater der Psychoanalyse, treten. Bei Psychotherapiesitzungen bemerkte er, wie viele der Informationen nonverbal geäußert wurden. Damit hatte Ekman sein Spezialgebiet gefunden. Den Durchbruch für ihn und seine Wissenschaft brachten Videoaufnahmen von Urvölkern. Egal, wie viele er sah, kein einziger Gesichtsausdruck dieser von moderner Zivilisation und westlicher Kultur unberührten Menschen überraschte ihn. Seine Schlussfolgerung: Es ist uns angeboren, wie wir Gefühle mimisch ausdrücken, und dabei gibt es keine Unterschiede. Feldstudien in Papua Neu-Guinea bestätigten in den 1960er Jahren seine Theorie und machten ihn in Fachkreisen berühmt. Ekmans Erkenntnisse und seine Einteilung von Gesichtsausdrücken in ein System, bei dem die Muskelbewegungen im Antlitz in 44 Aktionseinheiten eingeteilt sind, bildeten die Grundlage für die Hit-Fernsehserie “Lie To Me”. Dabei entziffert ein Ekman nachempfundener Wissenschaftler, was seine Gegenüber nicht verbal sagen und löst so Kriminalfälle, verhört Verdächtige und entlastet Unschuldige. Damit die Serie so realistisch wie möglich blieb, fungierte Edman als Sachverständiger.

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Dazu genügten ihm die kleinsten Anzeichen, inklusive so genannter Mikromimik, die in einem Sekundenbruchteil übers Gesicht huscht. Vor allem aber stellte Ekman fest, dass Ausdrücke genauso Gefühle auslösen können wie umgekehrt Emotionen zu Reaktionen in der Physiognomie führen.  Dabei transportieren weitaus nicht alle der mehr als 10.000 Gesichtsausdrücke, über die wir Menschen verfügen, Emotionen. Doch die, die es tun, lassen sich für Experten zu einem hohen Grad entdecken und entschlüsseln.

Diese Erkenntnisse werden vom amerikanischen FBI beim Verhör von Terroristen genauso verwendet wie von Hollywood. Professor Ekmans Analysen, die er in auch für Laien verständlichen Werken publiziert hat, wurden zum Beispiel für den ersten völlig computeranimierten Kinofilm “Toy Story” benutzt. Das Ergebnis waren authentische Gesichtsausdrücke für die Zeichentrickfiguren und ein Klassiker der Filmgeschichte.

Weil die meisten Gefühlsregungen und die Art und Weise, wie sie mimisch dargestellt werden, universal sind, lassen sich einmal gelernte Erkenntnisse weltweit anwenden. Selbst in Kulturen, in denen Wert auf möglichst unbewegte Mienen gelegt wird, sind Freude, Überraschung, Angst, Ekel und mehr für Eingeweihte unverkennbar. Das Wissen darum hilft beim gegenseitigen Verstehen, sogar wenn auf Worte verzichtet wird.

Allerdings bedeutet das auch, dass geübte Gesichtsleser sehr wohl wissen, wieviel sie selbst gewollt oder ungewollt von ihren Emotionen freigeben. Wer dem entgegensteuern will, kann einen Trick versuchen, der von manchen Experten etwa beim Training von Pokerspielen oder für Geschäftsführer bei Verhandlungen empfohlen wird.

Obwohl kleine und große Lügen von der Mehrheit der Menschen sogar ohne entsprechendes Training erkannt werden, beruhen diese unbewussten Analysen nämlich auf blitzschnell gefällten automatischen Einschätzungen. Wer hingegen nicht auf ein Pokerface setzt, sondern so viele Emotionen wie möglich mimisch zeigt, hat dadurch eine gute Chance, dass dieser Überfluss an Informationen sein Gegenüber verwirrt und einen mit einem Bluff davon kommen lässt.

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Dazu reicht es allerdings nicht, die Gefühle nur vorzutäuschen. Zum Glück genügt es meist, an Positives zu denken, um eine entsprechende mimische Reaktion hervorzurufen, und wenn es nur der Feierabend oder der Spaziergang mit dem Hund ist. Das gleiche gilt für andere starke Emotionen. Wer zum Beispiel an seine größte Angst denkt, wird das durch Muskelbewegungen rund um Augen und Mund zeigen. Wer diese Technik anwendet, sollte allerdings auch auf den Rest seiner Körpersprache achten. Etliche erfolgreiche Zocker gucken gar nicht erst mehr auf verräterische Gesichtsausdrücke, sondern achten lieber auf verkrampfte Hände oder angespannte Fußbewegungen.

Online-Kurse, Seminare und sogar YouTube-Clips beschäftigen sich mittlerweile mit der Kunst des Facereadings. Wie seriös diese Angebote jeweils sind, mag dahingestellt sein, aber dass die Wissenschaft dahinter fundiert und messbar erfolgreich ist, haben dank Professor Ekman und seinen Erkenntnissen zahlreiche Verbrecher feststellen müssen. Ihnen stand nämlich die Schuld schon ins Gesicht geschrieben, und die Gesetzeshüter sind dem nur nachgegangen. “Mach nicht so ein Gesicht” ist halt leichter gesagt als getan.

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